NACHT
Zeitgenössische Klavierwerke aus fünf Ländern.
Spätestens mit der Erfindung elektrischer Leuchtkörper ist „Nacht“ nicht mehr umstandslos gleichbedeutend mit Dunkelheit und Finsternis. Wohnräume, Fabrikhallen, Sportstadien und gigantische Millionenstädte sind auch nach Sonnenuntergang nahezu überall auf der Erde taghell erleuchtet. Gleichwohl ist, seit Menschengedenken bis heute, das Wort „Nacht“ mehr als ein Name für das physikalische Ereignis zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. „Nacht“ bedeutet auch uns: Dunkelheit und Finsternis und ist bisweilen mit Furcht, Angst und Unfriede assoziiert. Aber auch mit Feierabend, Ruhe, mit Schlaf und vieles andere mehr. Wie sich dieser erfahrungsweite Raum mit Konzert-Flügel und Wort-Bildern durchmessen lässt, wird unsere Abenddarbietung zugleich demonstrieren und thematisieren.

Komponistinnen und Komponisten aus Korea, Schweiz, Deutschland, Slowenien und Rumänien haben sich (manche im Auftrag des Pianisten Ortwin Stürmer) musikalisch mit dem Titel gebenden Naturphänomen auseinandergesetzt. Das Ergebnis sind Klangereignisse am Klavier von extremer Spannweite.

Dohun Lee: „Sternennacht“ nach Edvard Munch (2015) UA
Didier Schein: Sonata – Nocturna (2014) UA

Andreas Fervers: 6 Bagatellen (2004)
Lukas Langlotz: „...all...“ (2013)

Roland Breitenfeld: „Die Nacht“ (2015) UA
Isabel Klaus: „Ausmaß“ (2013)

Igor Majcen: „Wittgensteins Klarinette“ (2010)
Christoph Enzel: „Dark Matter“ (2013)

Richard Schindler
Nacht gibt es nicht.
Zeitgenössische Klavierstücke mit Ortwin Stürmer im Historischen Kaufhaussaal Freiburg, 18.06.2015

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NACHT
Aus dem Kurzvortrag von Richard Schindler

... Die Werke von Lee, Schein und Breitenfeld werden hier und heute weltweit zum allerersten Mal öffentlich gemacht. Ein Umstand, der bildenden Künstlern sehr vertraut ist. Uraufführungen haben ein Pendant in Vernissagen. Und doch sind die Differenzen, über das Zum-aller-ersten-mal hinaus, das schon immer mit einer Geburt verglichen wurde, ganz erheblich.

Bei Ausstellungseröffnungen geht es, in aller Regel jedenfalls, um Licht und Sichtbarkeit – gerade diese aber sind in Ton- und Klangkunst, in keiner Weise notwendige Voraussetzung adäquater Wahrnehmung. Vielleicht auch deshalb, hat Ortwin Stürmer seiner Performance der Stücke so unterschiedlicher Komponisten, den Titel Nacht gegeben: sie brauchen kein Licht! Andererseits aber und zugleich gilt: „Im Licht der Öffentlichkeit [erst] kommt … das, was ist, zur Erscheinung, wird allen alles sichtbar.“ (Habermas)

Zu Musik und Klangwelten, die uns Komponisten und Ortwin Stürmer zu erfahren geben, kann ich als bildender Künstler nichts sagen. Schon gar nicht in 1o Minuten und 60 Sekunden, auf die mein Redebeitrag nach Vorgabe eingeschrumpft ist, weil eine der neuen Kompositionen länger ausgefallen ist, als ursprünglich gedacht. Entgegen meiner Gewohnheit habe ich mich daher an das Notierte zu halten, um den Kollegen der Musik auch nicht eine ihrer Noten zu nehmen.

Aber eines scheint mir klar: Nacht gibt es nicht. Jedenfalls nicht hier und heute, nicht ständig und überall. Und schon gar nicht unverändert seit Millionen Jahren.

Obwohl wir von einem durchaus universalen, interstellaren Ereignis sprechen, wenn wir Nacht sagen. Nacht gibt es nicht. Nacht wird es, wie es Tag wird. Nacht ist Werden, wie der Tag Werden ist.

Die Nacht-Form ist eine Verlaufsform in der Zeit: definitionsgemäß die Zeit von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Ohne Umschweife bezieht sich diese Definition auf ein Gestirn und stellt ein relationales Verhältnis unserer irdischen Erfahrungswelt mit astronomischen Weiten her.

Als zeitliche Verlaufsgestalt ist Nacht der Musik natürlich ungleich näher, als der bildenden Kunst. Zeit spielt für Bildresultate künstlerischer Tätigkeit überhaupt keine oder eine nur untergeordnete Rolle. Bilder sind da, wie ein Stein da ist – unveränderlich, über lange Zeiträume, prinzipiell für immer und ewig. Bildobjekte sind von Dauer. Bilder haben jede Zeit der Welt.

Nacht aber kommt und geht, Nacht ist kein Zustand, sondern werdendes Geschehen, das sich unmerklich ankündigt und dennoch überraschend plötzlich da sein kann. Es ist, wie mit dem Sandkorn und dem Haufen: ein Sandkorn kommt zum anderen und plötzlich ist da ein kleiner Haufen; ein Haar nach dem anderen geht verloren und plötzlich ist da eine Glatze. Nacht ist zu keinem Augenblick unwandelbar sich selbst gleich, sie beinhaltet Morgen- und Abenddämmerung, Anklang und Ausklang. Nacht kommt und geht langsam, leise, auf Taubenfüßen, würde Nietzsche sagen.

Wann überhaupt ist Tag, wann Nacht? Die Nacht endet für uns ja nicht, wenn die Sonne aufgeht, sondern dann, wenn wir erwachen und aufstehen. Wem gehört dieser sanfte sachte Moment, wem gehört die Zeit des Übergangs, die sich eben so sehr unserer Erfahrung entzieht, wie sie sich aufdrängt?

[Nacht kündigt sich an, wie die, in die Millionen Menschen Hitler gefolgt sind – wie die, in der Menschen fortwährend ins Nichts geprügelt und gestoßen werden. Solchermaßen ist Nicht-Nächtliches am deutlichsten Nacht.]

Nacht ist selbst wie Musik, nur als werdende und vergehende. Deshalb kann mit Grund gesagt sein: Jede Musik, die nicht endet wie ein Sprengstoffanschlag - dunkel, plötzlich - jede Musik ist Nachtmusik.
Bedeutender noch scheint mir folgendes: Nacht gibt es überhaupt nur in der Kunst - in der Musik, in der Dichtung! Nur hier gibt es Finsternis, Schweigen – und Lauschen.

Das habe ich mir natürlich nicht einfach ausgedacht: es ist vielmehr jahrtausende alte Erfahrung und zentraler Bestandteil gerade unserer abendländischen Kultur:

Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.
Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

Wort und Sprache sind keine bloß technischen Mittel der Kommunikation. Das Wort, nur das Wort, scheidet Licht und Finsternis, nur das Wort ordnet, mit einer Formulierung Gottfried Bens, das Chaos!

Dass es die Nacht nur in der Kunst, in Musik und Dichtung gibt, können wir uns auch am Verhältnis von Bildender Kunst und Landschaft klar machen. Nacht und Musik verhalten sich zueinander, wie Landschaft und bildende Kunst. Land-schaft nämlich nennen wir eine Gegend, die wir nicht bloß sehen, sondern betrachten. Wenn wir eine Gegend betrachten, so wie wir ein Bild betrachten, sprechen wir von Land-schaft. Landschaft verdankt sich dem Blick, dem Point of View. Eben so verdankt sich Nacht der Kunst. Nur in der Kunst, in Musik und Dichtung, gibt es stockdunkle Finsternis, Totenstille oder eben hohe, helle Nacht, wie sie Schönberg nach Richard Demel mit Verklärte Nacht in Ton gesetzt hat.

Sonst, außerhalb der Kunst, gibt es Nacht - - nirgends.

Am deutlichsten kann uns das vielleicht werden, wenn wir vergegenwärtigen, dass selbst die erste Straßenbeleuchtung in Großstädten nicht eigentlich Beleuchtung der Straße war, sondern schlichte Positionsmarkierung, um sich im nächtlichen Dunkel zurecht zu finden. Geradeso so wie Menschen in Paris, London oder Wien, in mittelalterlichen Städten Europas, nicht aus dem Haus gehen durften – auch darüber wachten Nachtwächter – ohne ein Licht mit sich zu führen. Wenn Menschen bei Dunkelheit das Haus verließen, war ein Licht mitzuführen, polizeilich zwingend vorgeschrieben - nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden!

Zu diesem Zweck übrigens konnte man mancherorts Fackelträger mieten, die einem Heim leuchteten. Licht mit sich zu führen, um gesehen zu werden, gilt zwar heute noch für Radfahrer, aber es dient ihrer Sicherheit; während das mitgeführte städtische Licht des Mittelalters der Sicherheit der anderen galt. Keiner sollte sich ungesehen nähern dürfen ….

Für uns heute, den Lichtverwöhnten und nachtscheuen Wesen, für uns fühlt sich Nacht unvergleichlich anders an. Kaum, dass es nächtens ruhiger ist als am Tage und schon gar nicht, dass es nächtliche undurchdringliche Dunkelheit gibt. Seit 150 Jahren ist uns auch nach Sonnenuntergang hell wie am ersten Tag.

Mit gutem Grund lässt sich heute also fragen, was überhaupt unterscheidet Nacht vom Tag? Mir scheint, bedeutsam ist die Qualität des Lichts. Und zwar deshalb, weil uns nach Sonnenuntergang ein qualitativ anderes Licht leuchtet: Ein Licht, das sich weder dem Widerschein des Mondes, der Sterne oder der Wolken verdankt, auch nicht der, seit mehr als Menschen Gedenken, gehüteten Flamme, sondern ein Licht, das gänzlich artifiziell ist. Was heute Nacht vom Tag scheidet, ist kontrollierte elektrische Energie. Oder, anders gewendet: Nacht ist die eigentlich menschliche Zeit. Nacht, die wir nach Sonnenuntergang erwarten, ist Menschen gemacht.

Das hatte wohl der norwegische Dichter Rudolf Nilson im Sinn, als er, um 1900 noch, sein hohes Lied auf die Großstadt sang. Eben weil hier alles von Menschenhand gemacht ist, das städtische, gewaltige Rauschen, das scheinbar jede Meermuschel zu überbieten trachtet, der Asphalt unter unseren Füßen, bis zur Bogenlampe über uns. Nacht heute ist ein physikalisches Phänomen, das kaum mehr existiert, wenn man es nicht künstlich herbeischafft, indem man Licht löscht, in die Berge wandert oder in die Wüste, aufs Meer sich flüchtet.

Nacht hier und heute, das ist nicht der bestirnte Himmel über mir, Nacht, das ist nicht Unsichtbarkeit, nicht stock-dunkle, gar teuflische Finsternis. Im Gegenteil:

Die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang heute ist zuallererst Sichtbarkeit: Sichtbarkeit der Flugzeuge und Satelliten am Himmel, der Fernseh- und Internetbilder überall auf dem Smartphone. Wo dies nicht der Fall ist, herrscht Krieg. Wie zum Beispiel in Syrien, wo Satellitenbilder aus 600 km Höhe zeigen, dass in den letzten 4 Jahren 83% der aus dem Weltall sichtbaren Lichter ausgegangen sind. Da gibt es dann Foltermethoden mit Licht: ständiges, nie verlöschendes Licht – aber auch Dunkelhaft.

In etlichen Weltgegenden ist die Zeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang heute dominiert von nachtsichtigen Überwachungskameras im Verein mit Sprengstoff -- von der vernichtenden Gewalt fliegender Drohnen.

Nacht heute, das ist auch Bewusstsein und Vermögen, mit einem Fingertipp Licht werden zu lassen. Der Herrgott hatte noch des Wortes bedurft, um Licht und Finsternis zu scheiden, heute genügt eine stumme Geste. [Wisch – Licht aus! ----- Wisch - Licht an]

Da allein die Kunst schafft, was uns Nacht bedeutet, wünsche ich uns eine gute Nacht! Bleiben wir, wie Nietzsche sagte, der Musik gewogen, wie wir dem Mondlicht gewogen sind: beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, sondern, so gut sie es eben können, unsere Nacht erhellen.
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